Das Leben wieder selbst in die Hand nehmen

Jochen Wier lächelt. „Mir fehlt nichts“, sagt er. So sieht er es. Andere sehen es anders. Der sportliche, selbstbewusste junge Mann, geboren 1991 im beschaulichen Calw, sitzt entspannt auf dem Stuhl. Sein linker Arm fehlt, das fällt sofort auf. Dass er auch zwei Unterschenkelprothesen trägt, merkt man nicht.
Jochen Wiers Leben änderte sich im Mai 2010 mit einem Unfall, an den er nicht die geringste Erinnerung hat. Zu diesem Zeitpunkt ist Jochen 18 Jahre alt und in er Abschlussphase seiner Ausbildung zum Konditor.

Am 15. Mai 2010 will er einen lockeren Abend mit Freunden verbringen, vom Lernstress für die Prüfungen abschalten. Sie gehen in einen Club, sitzen gut gelaunt zusammen. Irgendwann ist Jochen verschwunden. Die Freunde wundern sich. Später wird sich herausstellen, dass jemand dem jungen Mann K.o.-Tropfen ins Getränk gemischt hat. Was dann passiert, ist nicht mehr zu rekonstruieren. Irgendwann wird Jochen auf dem Dach einer S-Bahn gefunden. Der Starkstrom hat ihn getroffen, er ist bewusstlos und lebensgefährlich verletzt. Beide Unterschenkel und der linke Arm werden amputiert. Die Narben der Verbrennungen am rechten Arm sieht man noch heute. Vier Tage liegt er im Koma. Monate im Krankenhaus folgen.

Zaghaft besuchen ihn Verwandte und Freunde – wie reagieren auf den schrecklichen Unfall, in dessen Folge Jochen schwerbehindert wurde? Doch Jochen verbreitet Zuversicht und ist sich sicher, dass er sein Leben meistern wird. Die Ausbildung zum Konditor schließt er ab – wohl wissend, dass er in dem Beruf nicht mehr arbeiten wird. Sein Arbeitgeber ermöglicht ihm den Abschluss. Bis heute backt Jochen gerne Kuchen und gestaltet Torten für Hochzeiten.

Dann kommt der Alltag. Vieles will man ihm abnehmen, doch Jochen Wier will alles alleine bewerkstelligen können. Nachdem er ein Praktikum beim Versorgungsamt in Stuttgart gemacht hat, zieht er zu Hause aus. Zusammen mit einem Freund lebt er in einer Wohngemeinschaft. Jochen ist froh über seine neugewonnene Selbstständigkeit. Auf die Frage, was ihm wichtig ist, antwortet er ohne Zögern: sportliche Aktivitäten, soziale Kontakte, gesunde Ernährung, Musik.

Jochen sucht den Kontakt zu anderen Menschen mit Amputationen. Er ist in einer Selbsthilfegruppe. Dort lernt er bei einem Grillfest Diana Schütz kennen, die selbst oberschenkelamputiert ist und gerade mit der Hilfe von Anpfiff ins Leben e.V. die Bewegungsförderung für Amputierte ins Leben gerufen hat. Er nimmt an vielem teil, was dort angeboten wird: Kanufahren, Wing Tzun und auch die Mannschaftssportarten Amputierten-Fußball und Sitzvolleyball. Besonders letztere inklusive und paralympische Sportart hat es ihm angetan.

Er nimmt am Training von Anpfiff Hoffenheim e.V. teil. Der ehemalige Nationaltrainer der Deutschen Nationalmannschaft, Rudi Sonnenbichler, ist Coach dieser noch jungen und sehr engagierten Mannschaft. „Hier können sich Menschen mit und ohne Behinderung auf Augenhöhe begegnen, miteinander spielen und in den Wettkampf treten“, erklärt Rudi Sonnenbichler. „Eine bessere Umsetzung des Inklusions-Gedanken kann ich mir nicht vorstellen! Die vorbildliche Umsetzung durch Anpfiff ins Leben e.V. und seine Partnervereine ist ein zentraler Baustein der gesellschaftlichen Integration und ich möchte mithelfen, sie noch mehr umzusetzen und auszuweiten!“

Zwei Mal pro Woche fährt Jochen zum Sitzvolleyballtraining. Obwohl er dort körperlich und geistig gut gefördert wird, sich auspowern kann, gibt es etwas, das er sich noch wünscht. Rennen, das vermisst Jochen sehr. Das geht nicht mit den Alltagsprothesen, mit denen er sichtbar gut gehen, aber eben nicht schnell laufen kann.

Am Ende eines Tages, wenn zu Hause der gemütliche Teil des Abends beginnt, setzt sich Jochen schon mal in seinen Rollstuhl. Selten tut er das auch auf der Straße. Dann wundern sich die Nachbarn, die ihn noch kurz zuvor auf dem Fahrrad gesehen haben.

Jochen möchte gesund bleiben und seine Leistungsfähigkeit und Belastbarkeit steigern. Er merkt die einseitige Belastung seines Körpers wegen des fehlenden Arms. Auch deswegen ist ihm der Sport so wichtig. Unter fachlicher Anleitung kann er bei der Bewegungsförderung für Amputierte lernen, was er tun kann, um seine Beweglichkeit zu schulen, ohne sich zu sehr zu belasten.

Für den Kopf hat er auch etwas gefunden: Er beginnt eine Ausbildung zum Kaufmann für Büromanagement. Die Ausbildung läuft über ein Förderprogramm der Heidelberger Dienste. Praktisch ausgebildet wird Jochen bei Anpfiff ins Leben e.V. Er durchläuft die Bereiche Verwaltung und Marketing, organisiert Veranstaltungen für die Bewegungsförderung für Amputierte, hilft aber auch im Tagesgeschäft der Jugendförderzentren mit.

Der Berufseinstieg bedeutet für ihn Freiheit, Selbstständigkeit und Perspektiven. Im Sommer wird er seine Ausbildung abschließen. Ein Ziel aber ist schon erreicht: Jochen hat sein Leben wieder selbst in der Hand.

Zum Filmbeitrag des SWR (DASDING)

Stephanie Riechwald, April 2016